„Die Medizin braucht internationalen Austausch“

Abdel Meguid Kassem engagiert sich für die Stärkung von Gesundheitssystemen in Afrika und forscht auch zu Covid-19. Dem DAAD ist der ägyptische Gastroenterologe eng verbunden.

DAAD-Alumnus Abdel Meguid Kassem

Professor Kassem, was hat Sie damals bewogen, Medizin zu studieren?

Medizin ist ein faszinierendes Berufsfeld, weil es Natur- mit Sozialwissenschaften kombiniert. Beides kann man für die Gesundheit, für das Wohl des Einzelnen einsetzen – das hat mich gereizt.

Ist das bis heute Ihr Antrieb?

Ja, ich bin ein leidenschaftlicher Mediziner und Forscher, nach wie vor. Obwohl der Beruf auch seine Härten hat, weil man viel und lange arbeitet. Man braucht die richtige Motivation, muss den Beruf lieben, sonst ist er eine Qual. Bei mir ist es zum Glück Leidenschaft und ein Lebensstil dazu, weil ich die Medizin tatsächlich auch als Hobby betrachte.

Sie waren vor langer Zeit DAAD-Stipendiat in Deutschland. Wie kam es dazu?

Abdel Kassem Bundesverdienstkreuz

Die erste Berührung mit dem DAAD gab es während des Studiums, das war in den 1980er Jahren. Damals hatte ich ein Kurzzeitstipendium, das mir in den Semesterferien die Arbeit in einem Labor in Münster ermöglichte. Später bekam ich ein Vertiefungsstipendium für einen Aufenthalt in München. Ich habe dort praktiziert und geforscht. Das war eine neue, interessante und aufregende Welt für mich. Genau genommen, war es DIE Bereicherung meines Lebens, menschlich und professionell.

Was genau haben Sie in München gemacht?

Ich war für meine Doktorarbeit dort, habe Studien in der Gastroenterologie am Klinikum rechts der Isar der TU München angestellt: Es ging um Magenspiegelungen, Darmspiegelungen, Darstellung der Gallenwege und so weiter. München war damals weltberühmt für Endoskopie. Es gab viele Gastärztinnen und -ärzte aus verschiedenen Ecken der Welt. Dadurch konnte ich ein internationales Netzwerk aufbauen, das über die Jahre weiter gewachsen ist und von dem ich bis heute zehre.

Wie lange waren Sie dort?

Damals zwei Jahre, aber die Kontakte haben nie aufgehört. Wir haben immer wieder gemeinsame Projekte durchgeführt, auch zusammen mit Forschenden aus anderen Ländern, aus Tunesien und Marokko zum Beispiel.

Trotzdem haben Sie sich damals entschieden, nach Ägypten zurückzugehen. Sie hätten es in München doch wahrscheinlich einfacher und bequemer haben können?

Tatsächlich hatte ich ein Angebot. Die Konditionen waren sehr gut, es wäre eigentlich ein Traumjob gewesen. Aber ich wollte in Kairo etwas bewegen, etwas aufbauen, weil es dort viel Verbesserungsbedarf gab. Deshalb entschied ich mich für die Rückkehr.

Sie haben also nicht zum „Brain Drain“ beigetragen, wie so viele Akademikerinnen und Akademiker, die in einem westlichen Land studieren...

Ich bevorzuge das Wort „Brain Circulation“, weil die Wissenschaft von der Bewegung und vom Austausch lebt. Um die globalen Gesundheitsprobleme zu meistern, brauchen wir möglichst viele Erfahrungen und Erkenntnisse. Ärztinnen und Ärzte in Ägypten sind mit ganz anderen Patientinnen und Patienten und Krankheiten konfrontiert als ein Arzt in Deutschland. Hier sehen wir zum Beispiel täglich 20 bis 30 Fälle von Lebererkrankungen wie Hepatitis B oder Hepatitis C – in Deutschland hat man diese Zahl vielleicht in einem Monat. Dafür gibt es dort mehr Erkrankungen der Bauspeicheldrüse. Deshalb braucht man ganz dringend internationalen Austausch.

Seit kurzem gehören Sie einer internationalen Expertengruppe zu Covid-19 an. Was hat es mit diesem Gremium auf sich?

Ich hatte in meinem Leben schon viel mit Infektionskrankheiten zu tun und bin auch an verschiedenen Forschungsprojekten zu Covid-19 beteiligt. Unter anderem deshalb bin ich im August 2020 in diese Gruppe der InterAcademy Partnership berufen worden. Ihr gehören 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt an. Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt: Wir werben für evidenzbasierte Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie und hoffen, dadurch Institutionen und Regierungen beeinflussen zu können.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen Ihrer Arbeit und den SDGs?

Ich sehe viele Verbindungen, nicht nur zu SDG 3. Gesundheit ist ein Querschnittsthema: ohne Gesundheit keine Wirtschaft, keine Wissenschaft, mehr Armut, keine Bildung. Sie ist eine Prämisse für eine insgesamt erfolgreiche Entwicklung. Allerdings wurde Gesundheit viel zu lange als selbstverständlich erachtet, vor allem in den reicheren Staaten. Dass das nicht stimmt, hat die Pandemie deutlich gezeigt.

Haben wir das Virus Ihrer Ansicht nach jetzt im Griff?

Dazu möchte ich noch keine Vorhersage wagen, weil der Verlauf der Pandemie auch stark davon abhängt, wie wir uns verhalten und welche Entscheidungen die Politik trifft. Aber so viel kann ich sagen: Mich hat rückblickend sehr gestört, wie man zu Beginn damit umgegangen ist. Grenzen wurden geschlossen, Mobilität limitiert und alle dachten nur an sich selbst: Wir schützen unsere Hütte, unser Haus, unsere Stadt, unser Land. Statt eine globale Perspektive einzunehmen und zu schauen, wer was braucht, haben wir den Fokus verengt.

Das ist eigentlich die Definition der Agenda 2030 – globale Lösungen für globale Probleme. War die anfängliche Reaktion auf die Pandemie ein Verrat an den SDGs?

So sehe ich das, ja.

Glauben Sie, dass SDG 3, auch vor dem Hintergrund der aktuellen Lage, noch zu erreichen ist?

Ziele vor Augen zu haben, ist immer gut, aber ich bezweifle, dass wir alle Ziele bis zum Jahr 2030 erreichen können. Da ich jedoch ein überzeugter Multilateralist bin, nicht zuletzt wegen des DAAD, finde ich es wichtig, an den SDGs festzuhalten und für sie zu kämpfen.

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